Kickoff-Workshop – Zur Gegenwart des Kulturellen Erbes

Bericht

Fragen nach der Konzeptualisierung eines kulturellen Erbes und seiner Zeitregime in
einem transnationalen und -kulturellen Ostseeraum ebenso wie nach der Akzeptanz und
Relevanz in der heutigen Gesellschaft wurden auf dem Kick off-Workshop des Clusters
Die Gegenwart des kulturellen Erbes / Topicality of Cultural Heritage diskutiert, der am
03.07.2019 im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg stattfand.

In der Einführung verwies Eckhard Schumacher (Greifswald), der Sprecher des
Clusters, auf die Semantiken von Gegenwart als Präsenz, Präsens und Präsentation und
ihrer englischen Entsprechung topicality, die stärker auf die Zeitlichkeit von Aktualität
und Brisanz, aber auch auf eine räumliche Dimension (Topos) abzielt. Damit waren
Schlagwörter benannt, die sich in unterschiedlicher Gewichtung in den grundlegenden
Fragestellungen des Clusters nach einem shared heritage/geteilten Erbe, Raum- und
Zeitbezügen sowie Kulturtechniken wiederfinden und sich durch den Workshop
hindurch immer wieder als Referenzpunkte erwiesen. Antje Kempe (Greifswald)
vertiefte in ihren nachfolgenden Überlegungen zum Kultur- und Naturerbe im
Ostseeraum v.a. die Frage nach der Relativität der Unterscheidung zwischen Kultur und
Natur in Hinblick auf die Medien des Gedächtnisses und den Prozess der Erbewerdung,
aber auch des Erbeseins. Dieser sei als ein performativer Akt zu verstehen, der das Erbe
als eine spezielle kulturelle Praxis der Gegenwartskultur begreifbar macht.

Die temporale Verfasstheit des kulturellen Erbes in der 1972 verabschiedeten World
Heritage Konvention der UNESCO, die auf Erfassung, Schutz und Weitergabe ausgelegt
ist, stellte Stefan Willer (Berlin) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Er
hinterfragte insbesondere die damit verbundene Konzeption von Ewigkeit und die
Schlagworte von Konservierung und Nachhaltigkeit. Er führte diese auf den in den
1970er Jahre erfolgten Zukunftsschock zurück, der langfristig konservative
Sicherungsmaßnahmen begünstigte. Die Stillstellung der Zeit in einer abzusichernden
Zukunft steht jedoch im Widerspruch zu der Offenheit der Zukunft. Es stellte zudem
einen Wechsel gegenüber der bei Hegel zu findenden Auffassung heraus, nach der das
Erbe mit einer aktiven Aneignung, mit Arbeit verbunden sei, dass Erbe also nicht
übereignet, sondern zu erwerben sei. Die Problematik der Stillstellung und
Konservierung wurde in der Diskussion insbesondere mit dem Prozess der
Rekonstruktion zusammengeführt.

Ausgehend von der historischen Semantik des Begriffs Denkmals zeigte Eva-Maria Seng
(Paderborn) die Entwicklung und Erweiterung des Begriffs auf, der schließlich in den
vor allem durch die UNESCO geprägten Differenzierung des materiellen und
immateriellen Erbes mündete. In ihren weiteren Ausführungen betonte sie, dass die
hierbei vorgenommene Unterscheidung zugunsten einer verbindenden Sichtweise
überwunden werden sollte. Mit Blick auf den Ostseeraum schlug sie, fußend auf der
Analyse von zeitgenössischen Dokumentarfilmen über die Region, stattdessen vor, das
durch die Kulturgeographie und die französische Schule der Annales für den
Mittelmeerraum geprägte Konzept der Kulturlandschaft einzubeziehen. In der
anschließenden Diskussion wurde vor allem dann die Frage nach der Akzeptanz in allen
gesellschaftlichen Schichten herausgestellt und problematisiert.

Claas Friedrich Germelmann (Hannover) zeigte aus juristischer Sicht eine weitere
Perspektivierung des Konzepts kulturelles Erbe auf. In erster Linie verwies er auf die
Problematik der juristischen Fassung eines Kulturgüter- und Kulturerbebegriffs, die
nicht zuletzt auf Definitionsprobleme wie entgegenlaufenden Individual- und
Kollektivinteressen, nicht zuletzt die des Staates, zurückzuführen sind. So bestimmen
Zuordnungsfragen und menschenrechtliche Dimensionen des Schutzes die
Rechtsprechung. So obliegt das Kulturschutzgesetz einer nationalen Gesetzgebung,
jedoch bieten die supranationalen Richtlinien der UNESCO die Möglichkeit, Kultur als
Austausch zu betrachten und grenzüberschreitende Kooperationen anzudenken, die, so
Germelmann, vor allem in Hinblick auf Restitutionsansprüchen und Repatriierung
sinnvoll wäre. Auch die Frage der identitätsstiftenden Funktion des kulturellen Erbes
durch Minderheitenrechte und Grundrechte auf kulturelle Teilhabe wurden in diesem
Kontext besprochen.

Peter Bell (Erlangen) referierte schließlich mit der Vorstellung des von einem
europäischen Konsortium entwickelten Projekts Time Machine auf die gegenwärtige
Entwicklung eines E-Heritages und brachte damit ein anderes Medium der Sichtbar- und
Verfügbarmachung in die Diskussion ein. Im Vordergrund seiner Ausführungen stand
die Konzeption und Verwertung des Projektes, das eine Simulation von möglichen
Vergangenheiten anstrebt. Anspruch sei es, die größte Datenbank zu werden und alle
unterschiedlichen Bereiche des kulturellen Erbes zu visualisieren.
In der anschließenden Diskussion wurde der Einblick in die Potentiale eines digitalen
Zugangs vertiefend durch die Frage, was das E-Heritage für ein neues Verständnis des
kulturellen Erbes hervorbringt, betrachtet/reflektiert. Deutlich wurde zudem, dass die
Digitalisierung ein notwendiges Instrument des Erkenntnisgewinns und der Vernetzung
darstellen kann, aber auch Diskurspraktik aufgefasst werden sollte.

Die knapp zweieinhalbstündige Abschlussdiskussion am Nachmittag wurde mit einem
Impulsreferat von Małgorzata Omilanowska (Warszawa) eingeleitet, die das
unerwünschte Erbe als eine Frage der Zeitlichkeit wie gesellschaftlichen Akzeptanz in
den Mittelpunkt ihrer Darlegungen stellte. Eindringlich wurde dies anhand ihrer
ausgewählten Beispiele aus der Zeit des Sozialismus und des Zweiten Weltkrieg vor
Augen geführt, wobei insbesondere die Frage, um wessen Erbe es sich handelt, auch in
Hinblick auf eine transnationale Konzeption wie die Frage nach einem gemeinsamen
Kulturerbe eine besondere Relevanz erhielt.
Daran anknüpfend zentrierten sich die anschließenden Redebeiträge der Teilnehmer
des Workshops insbesondere um drei Fragestellungen: Zum einen wurde deutlich
betont, dass in die Problematik von Rekontextualisierung und Rekonstruktion des
kulturellen Erbes v.a. im transkulturellen Kontexte auch die Zirkulation und
Reproduktion von Objekten einzubeziehen ist, ebenso wie Fragen der Restitution.
Daneben zeichnete sich ab, wie wesentlich es ist, Akteure und Medialität
zusammenzudenken, um aufzuzeigen wie das kulturelle Erbe akzeptiert und
popularisiert wird. Problematisiert wurde zudem der Begriff der Identität im Kontext
des kulturellen Erbes. Mit dem Verweis darauf, dass dieser nur im Plural zu denken ist
wurde zudem der Bogen zur Feststellung gespannt, dass die Pluralität des kulturellen
Erbes im Sinne seiner Vielgestaltigkeit und -fältigkeit im Singularetantum des Wortes
sich nicht widerspiegelt.


– Antje Kempe