Kickoff-Workshop – Regionale Entwicklung und Ländliche Räume
Regional Development and Rural Areas
Bericht
Innovation und Entwicklung sowie Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum standen im Mittelpunkt der Diskussionen auf dem Kickoff Workshop des IFZO-Clusters „Regionale Entwicklung und Ländliche Räume“ am 11. Oktober 2019 in Greifswald. Experten aus Schweden, Estland, Litauen und Deutschland erörterten sowohl Fragen zu Rolle und Einfluss der ländlichen Räume in der Entwicklung innovativer marktfähiger Ideen und Unternehmen als auch spezifische Fragen zur Einführung und Verbreitung von Neuerungen im Gesundheitswesen.
Der ländlichen Raum wird in gegenwärtigen Debatten allzu oft negativ konnotiert. Mangelnde Infrastruktur, Arbeitskräftemangel und räumliche Distanzen werden nachteilig beurteilt. Silvia Keim-Klärner (Braunschweig)plädierte vor dem Hintergrund neuerer Forschungsergebnisse für einen Perspektivwechsel und eine Umdeutung, die das Potential des ländlichen Raumes betont. Im Werkstattbericht ihrer vergleichenden Untersuchungen von sozial benachteiligten Gruppen in peripheren, zumeist ländlichen Räumen Deutschlands und Tschechiens erläuterte sie Forschungsansätze, die etablierte und überholte Ansichten zur Benachteiligung des ländlichen Raumes in Frage stellen. Keim-Klärner beschrieb, wie mit Hilfe der Indikatoren „Wirtschaftsstrukturen“ (Landwirtschaft), „Haus- und Einwohnerdichte“ sowie „Bildungsgrad“ die zu untersuchenden Regionen ermittelt wurden. Faktoren wie die Re-Industrialisierung oder wirtschaftliche Dynamik spielten ebenso eine Rolle im Auswahlprozess. Mittels Experten- und Einwohnerinterviews soll der Einfluss konkreter lokaler Netzwerke sowie der Randlage auf die soziale Benachteiligung untersucht werden.
Magnus Nilsson (Lund) präsentierte mittels seiner Forschungsergebnisse bereits konkrete Erkenntnisse zur Innovationskraft des ländlichen Raums in Schweden. Generell wird angenommen, dass Knowledge Intensive (KI) Unternehmen aufgrund der Nähe zu Bildungsinstitutionen und dem größeren Pool an Arbeitskräften in urbanen Zentren angesiedelt sind. Nilsson konnte dabei zeigen, dass diese Annahme in mehreren Punkten von der Realität im schwedischen Kontext abweicht. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn die Vorteile des ländlichen Raums einem KI Unternehmen mehr Wachstumschancen bot als es ein urbanes Zentrum. Dies liegt beispielsweise darin begründet, dass Unternehmen im ländlichen Raum zügig globale Netzwerke aufbauen und so der lokalen Enge urbaner Zentren entkommen. Negativfaktoren städtischer Präsenz wie das Abgreifenden sensibler Informationen durch die unmittelbare Nähe von Konkurrenten sowie der Abwerbung von wertvollem Personal kann ebenfalls vorgebeugt werden. Nilssons Ergebnisse zeigen auch, dass weniger auf Wissen basierte Unternehmen in urbanen Zentren bessere Wachstumschancen haben. Vor diesem Hintergrund erbrachte das Experiment zum Potential einer in Kalrskrona ansässigen KI Firma, dass ihre Entwicklungsmöglichkeiten in dieser Region 40% über den Möglichkeiten von Stockholm, 22% über denen von Göteborg und immer noch 12% über denen von Malmö lägen.
Diese herausfordernden Ergebnisse werden durch neue Erkenntnisse in der Innovationsgeographie gestützt, die Martin Graffenberger (Leipzig) vorstellte. Auch er griff das vorherrschende Narrativ des benachteiligten ländlichen Raumes an. Obwohl die Auftaktkarte der Hidden Champions wiederum ein spezifisch südwestdeutsches Narrativ ländlicher Innovation darstellte, zeigt sie doch, dass ländlicher Raum nicht per se von wirtschaftlicher innovativer Entwicklung ausgeschlossen ist. Vielmehr deutet Graffenberger die Dominanz wissenschaftlicher Diskurse an, die undifferenziert Innovationskraft und wirtschaftliche Entwicklung aufgrund vermeintlicher Vorteile urbaner Zentren hier ansiedeln. Der ferne und fragmentierte ländliche Raum wird in diesen Darstellungen eher als nachteilig empfunden. Dabei müsste aufgrund der Erkenntnisse auch von Nilsson und anderen ein Umdeutungsprozess der etablierten Diskurse stattfinden. Der zielgerichtete und strategische Aufbau von Kooperationsnetzwerken, zeitlich begrenzte Vor-Ort-Kooperationen, strategische Mobilitäten und interne Kapazitäten von Firmen in ländlichen Räumen zeugen von einem großen Entwicklungspotential. Untersuchungen zeigen, dass zumindest zum Teil diese spezifischen Instrumente vor dem Hintergrund der Standortbedingungen in ländlichen Räumen erfolgreich angewandt werden konnten. Innovation ist daher eher als ein multilokaler, zielgerichteter und durch zahlreiche Akteure gestalteter Prozess zu verstehen, der nicht auf wenige Zentren beschränkt bleibt.
Die Perspektive auf Innovationen im ländlichen Raum und dessen Bedeutung für deren Entwicklung wurde im zweiten Panel des Workshops auf Fragestellungen der Diffusion von Innovationen und auch deren soziale, kulturellen und strukturellen Bedingungen erweitert. Entwicklung im ländlichen Raum ist ohne Infrastruktur, das heißt auch Gesundheitsversorgung nicht möglich.
Rimantas Stašys (Klaipeda) fokussierte in seinen Überlegungen zur Entwicklung der Gesundheitsdienstleistungen auf die Globalisierung des Marktes und die wachsende Bedeutung interkultureller Kompetenzen. Seine empirischen Untersuchungen zu interkulturellen Kompetenzen von Ärzten und Pflegepersonal in Litauen zeigen, dass der wachsende Bedarf durch eine wachsende internationale Frequentierung nur unzureichend gedeckt werden kann. Neben Defiziten in den Sprachkompetenzen behindern auch mangelndes Wissen über kulturelle Eigenheiten, Mentalitäten und ethische Vorbehalte eine erfolgreiche Behandlung. Gleichzeitig bedingt die globalisierte Gesundheitswirtschaft einen wachsenden Influx an internationalen Patienten, deren inadäquate Behandlung einen Wettbewerbsnachteil bedeute. Obwohl die Untersuchungen zeigen, dass die wichtigsten Aspekte interkultureller Kompetenzen von Mitarbeitern in litauischen Kliniken erkannt wurden, zeigen sie auch, dass bis zur Hälfte der Befragten nur wenige bis gar keine Vorteile für Ihre Karriere in der Erlangung dieser Kompetenzen sehen.
Letzteres ist umso erstaunlicher vor dem Hintergrund des wachsenden Medizintourismus‘, den Kristupas Žegunis (Klaipeda) in seiner Untersuchung in den Mittelpunkt stellte. Dabei wird zwischen Medizintourismus, der auch Wellness, kosmetische Behandlungen und andere medizinisch nicht notwendige Behandlungen einschließt, und medizinisch notwendigen Reisen unterschieden. Etablierte Zentren des Medizintourismus sind Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Neue bzw. upcoming Standorte befinden sich in Ungarn, Polen, Tschechien, Rumänien und den baltischen Staaten Lettland und Litauen. Die Gründe für den wachsenden Markt an Gesundheitsdienstleistungen liegen zum einen in qualitativen und insbesondere preislichen Unterschieden der Leistungen, aber auch in der mangelnden Verfügbarkeit von spezifischen Dienstleitungen entweder durch den Mangel an Kapazitäten oder unzureichender Qualifikation des Personals.
Die Internationalisierung des Gesundheitsmarktes eröffnet auch Chancen für innovative Ideen wie dem E-Health: das heißt, einer komplett auf digitale Strukturen eingestellten Behandlungs- und Dokumentationsweise im medizinischen Bereich. Mare Ainsaar (Tartu) gab einen erkenntnisreichen Einblick in die estnischen Gehversuche in der Implementierung von E-Health in der estnischen Gesellschaft. Dabei beleuchtete sie in ihrer Untersuchung die Umstellung verschiedener manueller Elemente einer medizinischen Behandlung auf digitale Formen: die digitale Verschreibung von Medikamenten, die elektronische Gesundheitsakte, digitale Röntgenbilder und die digitale Patientenanmeldung. Obwohl die EU einen besonderen Fokus auf die Einführung digitaler Strukturen im Gesundheitswesen legt, hat diese kein anderes Land so umfangreich eingeführt wie Estland. Klare strategische Zielvorstellungen, großes gesellschaftliches Vertrauen in die staatlichen Systeme, eine konsequente Umsetzung und ein effektiver Datenschutz haben sich als vorteilhaft für die Entwicklung dieser digitalen Strukturen erwiesen. Insbesondere die Kombination aus digitaler ID und Gesundheitskarte hat der Implementierung geholfen. Dabei hat sich aber auch gezeigt, dass unzureichende Analysetools in der Gesundheitsakte den Mehrwert für Allgemeinärzte soweit schmälerten, dass bestimmte Umsetzungen in diesem Bereich skeptisch hinterfragt werden.
In der am Nachmittag anschließenden Roundtable Discussion wurden Aspekte aus den Panels aufgegriffen, um Schwerpunkte und Fokusthemen der Forschungen im IFZO-Cluster „Regionale Entwicklung und Ländliche Räume“ zu identifizieren. Dabei war wichtig zu betonen, dass insbesondere im Bereich der Innovationen zunächst von den Innovationen und deren Diffusionswege auszugehen ist und sich nicht durch einen Container „Ostsee“ regional zu beschränken. Die Spezifik eines Ostseeraums soll sich in der Analyse erweisen. Im thematischen Mittelpunkt standen die Entwicklung von Innovationen und wie sich diese verbreiten. Besonderer Fokus liegt auf der Entwicklung und grenzüberschreitenden Anwendung neuer Praktiken in der Notfallversorgung und in der Telemedizin. Ebenso wurden definitorische Probleme in Bezug auf Innovation, ländlicher Raum und Peripherie angesprochen, die aber die eigentlichen Untersuchungsgegenstände nicht überdecken sollten. Im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung wird ein Fokus auf der Entstehung sowie den sozialen und kulturellen Aspekten von Unternehmertum (entrepreneurship) im ländlichen Raum liegen.
– Alexander Drost