Zur Gegenwart des Kulturellen Erbes Mitteilungen

Workshop Digitizing Cultural Heritage and its Innovative Usage, Tallinn 12. März 2020

Digitizing Cultural Heritage Workshop, Foto: Antje Kempe
Oldschool crowdsourcing, Foto: Antje Kempe

Welches Potenzial die Digitalität für gegenwärtige Gesellschaften und Kulturen aufweist, zeigt sich aktuell nicht zuletzt am Erproben von neuen Formaten für E-Learning, Video-Konferenzen, digitalen Ausstellungsformaten. Welchen Stellenwert die Digitalität auch für den Erhalt und die Vermittlung eines kulturellen Erbes einnimmt war Gegenstand eines Workshops, der im Rahmen des Deutschen Frühlings von Wissenschaftsinstitutionen des Landes Niedersachsen in Kooperation mit estnischen Einrichtungen in Tallinn unter dem Titel Digitizing Cultural Heritage and its Innovative Usage durchgeführt wurde.

Janne Andresoo, Generaldirketorin der Nationalbibliothek Estland, betonte in ihren Begrüßungsworten, dass wir uns an einem Wendepunkt zwischen einer noch analogen und bereits digitalen Welt befinden. Die Frage sei, wie diese zu gestalten ist. Diesen Faden nahmen Marek Tamm (Universität Tallinn) in seiner Einführung zu dem Workshop und Indrek Ibrus (Universität Tallinn) in seiner Keynote auf. Marek Tamm warf die leitende Frage auf, wie Daten zu analysieren und zu nutzen seien, damit die Digitalisierung des kulturellen Erbes sinn- und identitätsstiftend wird. Letzteren Aspekt vertiefte Indrek Ibrus und führte dies beispielhaft an der Estnischen Filmdatenbak (EFDB) aus, die Informationen über das gesamte estnische Filmerbe bereitstellt. Er betonte, dass nicht die Digitalisierung an sich das Ziel sei, sondern die digitalisierten Daten wieder verwendbar, nachnutzbar und umnutzbar zu machen seien. Ein Ansatz dafür stelle beispielsweise eine Folksonomie, eine Form der gemeinsamen Verschlagwortung (social tagging), dar. Mit Rückgriff auf den von Juri Lotmann  entwickelten semiotischen Ansatz wie auch der Diskursanalyse von Michel Foucault entwarf Ibrus zugleich ein theoretisches Fundament, wie ein offenes System zu erhalten sei, das auf einer breiten Varietät basieren muss. Besondere Relevanz kommt hierbei dem Verständnis von Metadaten zu, diese müssten, so sein Plädoyer, auch ein Objekt der Politik werden, um eine nachhaltige digitale Kultur zu entwickeln und zu erhalten.

In dieser Hinsicht waren die beiden nachfolgenden Panels aufschlussreich, in denen von deutscher und estnischer Seite Online Plattformen, Datenbanken und digitale Projekte vorgestellt wurden. Die Präsentationen gaben einen guten Einblick über den Stand der Digitalisierung, Möglichkeiten und Verständnis im Umgang mit digitalen Daten in beiden Ländern. So wurde beispielsweise durch Frank Dührkohp (VZG) verschiedene Datenbanken digitalisierte Sammlungsbestände des Landes Niedersachsens vorgestellt (https://kulturerbe.niedersachsen.de/start/;https://www.kuenstlerdatenbank.niedersachsen.de). Björn Schreier (GWLB) präsentierte eine Online Ausstellung zu historischen Karten mittels denen eine virtuelle Reise nach Tallinn angetreten werden kann. Die Digitalisate wurden dazu auch mit historischen Reisebeschreibungen verknüpft (https://kulturerbe.niedersachsen.de/ausstellung/travelling-in-northern-europe/).  Margrete Plank (TIB) rückte mit einem Portal für das audio-visuelle Erbe eine besondere Form des Erhaltens und Vermittelns von ethnographischen und Lehrvideos in den Mittelpunkt (https://av.tib.eu). Insgesamt spiegelten die Ausführungen die Anstrengungen von Bibliotheken, ihre Bestände zu digitalisieren, nutzerfreundlich zu gestalten und eine bessere Forschungsinfrastruktur wie z. B. mit dariah-de aufzubauen, wider.

Die Einblicke in die Projekte von estnischen Archiven und Bibliotheken zeigten dagegen ganz im Sinne der eingangs gestellten Frage überwiegend auf, wie Daten zu kuratieren sind und wie jenseits institutioneller Grenzen breitere Bevölkerungsschichten daran partizipieren können. Vahur Puik stellte anhand der digitalen Fotogallerie Ajapaik (https://ajapaik.ee/?page=1) der estnischen Gesellschaft zum Erhalt des fotografisches Erbes die Möglichkeit von crowdsourcing und geotagging zur Verifizierung und Verortung von historischen Aufnahmen vor. Dass diese Form des Einbezugs von breiteren gesellschaftlichen Gruppen zum Sammeln von Informationen zu Archivbeständen nicht nur für Vereine hilfreich ist, verdeutlichte Sven Lepa vom estnischen National Archiv anhand von zwei digitalen Forschungsprojekten (https://artsandculture.google.com/exhibit/%C2%A0-tartu-1914–1918/IgLyovtaVf-mLw). Gleichsam als Klammer zwischen den beiden Formaten konnten die Ausführungen von Andra Orn zu der Kunstplattform NOAR. Access to Art! (https://noar.eu/en/home/)  verstanden werden, mittels der jenseits von Institutionen Werke von Künstlern aus Estland und den nordischen Ländern gesammelt und vermarktet werden. Die prekäre Finanzierungslage und eine fehlende institutionelle Anbindung, die einheitliche Standards und eine dauerhafte Speicherung gewährleisten, stellen das Projekt vor Herausforderungen. Zugleich werden mit einem augmented-reality-Projekt zu Arbeiten des estnischen Street-Art Künstlers Edward von Lõngus neue Wege beschritten, deren Potential auch von Kaur Riismaa anhand des Smart-Museums für Kinder und interaktiven Stadtspaziergängen demonstriert wurde.

Mit diesen letzten beiden Beispiel wurde noch einmal deutlich, dass für die Digitalisierung von Sammlungsbeständen sowohl ein institutioneller Rahmen nötig ist, wie auch technische Formate für die Analyse (machine-learning, geotagging, augmented reality), der Partizipation und Vermittlung gebraucht werden, um das kulturelle Erbe nicht nur zu bewahren, sondern zu gestalten. Dazu müssen aber auch Institutionen wie Bibliotheken, Museen, Archive neue Wege beschreiten. Einen spannenden und produktiven zeigte abschließend Philippe Genêt  von der Deutschen Digitalen Bibliothek mit dem Hackathon Coding da Vinci (https://codingdavinci.de/) auf, bei dem auf kollaborative Weise die von Kulturinstitutionen zur Verfügung gestellten Daten zu kreativen und gemeinnützigen digitalen Projekten entwickelt werden. Das Potenzial ist also vorhanden, um die Digitalisierung von und als kulturelles Erbes innovativ und nachhaltig zu gestalten.

Text: Antje Kempe


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