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Sassnitz, Washington, Brüssel und Berlin: die Entwicklung der Kontroverse um Nord Stream 2

Nord Stream 2: Anlandung der Gasleitung in Lubmin, Deutschland. Foto: Karla Hartmann

Nord Stream 2 verbindet Russlands Gasressourcen direkt mit den EU-Ländern (hauptsächlich Deutschland). Dieses umstrittene Projekt hat die EU-Mitgliedstaaten des Ostseeraums (BSR) in zwei Lager gespalten: die Befürworter (z.B. Deutschland) und die Gegner (z.B. die baltischen Staaten und Polen). Die nicht zuletzt von den Baltischen Staaten und Polen gegen dieses Projekt geschürten Widerstände ergeben sich insbesondere aus Sicherheitsbedenken, die aus der antagonistischen Politik Russlands gegenüber diesen Ländern und der Ukraine sowie weiteren politischen Auseinandersetzungen resultieren. Darüber hinaus gab es konkrete Bedenken wegen der negativen ökologischen Auswirkungen des Projekts. Die Kontroverse um das Nord Stream 2-Projekt hat zunehmend die Form eines Rechtsstreits angenommen. Polen stand in diesem Rechtsstreit an vorderster Front. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes stärkte dabei zunächst die Position Polens, dass die in Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgelegten Grundsätze der Energiesicherheit und Solidarität im Hinblick auf dieses Projekt verletzt wurden.

Neben dem Streit zwischen den Ländern der Region über Nord Stream 2 haben die Sanktionen der Vereinigten Staaten zur weiteren Eskalation und Komplexität des Konfliktes beigetragen. Washington hat diese Sanktionen gegen am Projekt beteiligte Unternehmen mit dem Anspruch gerechtfertigt, den "wirtschaftlichen und politischen Einfluss des Kremls auf Europa" zu lockern. Obwohl diese Sanktionen erst spät kommen – das Projekt ist fast abgeschlossen –, scheinen die Auswirkungen der Sanktionen erheblich zu sein, insbesondere für die Privatwirtschaft. Gegenwärtig haben die US-Sanktionen einen der Hauptauftragnehmer, das Schweizer Unternehmen Allseas Group SA, gezwungen, seine Rohrverlegungsarbeiten einzustellen. Langfristig bietet der US-Markt einträglichere Gewinne für die Firma als dieses umstrittene Projekt mit zahlreichen Unwägbarkeiten. Polen und die baltischen Staaten sympathisieren mit den US-Sanktionen. Diese überraschende Sympathie ist ein Zeichen dafür, dass diese Region trotz des Anscheins einer relativ gemeinsamen Vision für die Sicherheitsfragen und den Energiewandel im Ostseeraums, die hauptsächlich auf den Zielen der EU beruht, nicht mit einer Stimme spricht, nicht zuletzt, wenn es um die Herausforderungen des Energiewandels und verschiedenen Risiko- und Bedrohungswahrnehmungen im Kontext der gegenwärtigen Sicherheitsarchitektur geht. Das Nord Stream 2 Projekt hindert die Ostseeraumländer daran, gemeinsame regionale Ziele in diesen Bereichen zu erreichen. Nichtsdestotrotz könnte dieser Konflikt auch zu einem Wendepunkt werden, die postsowjetische Regionaldiplomatie neu zu überdenken.

Die jüngste Entwicklung geht von einem unkonventionellen Schritt aus: am Mittwoch, dem 5. August 2020, haben drei US-Senatoren, nämlich Tom Cotton, Ron Johnson und Ted Cruz, einen Brief an den lokalen Hafenbetreiber Fährhafen Sassnitz GmbH im Hafen Mukran auf der Insel Rügen geschickt und dem Unternehmen mit Sanktionen gedroht, falls sie ihre Zusammenarbeit im Nord Stream 2 fortsetzen: [Wir] "haben in unseren Gesprächen mit denjenigen, die dort Ausrüstung bereitstellen, sehr deutlich gemacht, dass eine Beteiligung an der Fortsetzung der Arbeiten zur Fertigstellung der Pipeline sanktioniert wird". Diese Sanktionen, die sogar auf Personen abzielen, die im Hafen arbeiten, könnten erhebliche negative Auswirkungen auf die kleinen lokalen und größeren internationalen Unternehmen im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern in Deutschland haben. Folglich stellen sie eine erhebliche Bedrohung für die vergleichsweise kleine Wirtschaftsregion MV dar. Als Folge dieser jüngsten Entwicklungen fordern fast alle politischen Parteien in Deutschland unmissverständlich und ziemlich einhellig eine starke Reaktion auf das oben genannte Schreiben.

Ungeachtet des unkonventionellen Verhaltens der derzeitigen US-Regierung gegenüber Nord Stream 2 wird Deutschland nach Abschluss dieses Projekts zur Deckung seines Gasbedarfs weitgehend auf einen einzigen externen Lieferweg angewiesen sein. In diesem Sinne scheint das Projekt gegen den Geist der politischen Ziele der EU zu verstoßen, die eine geringere Energieabhängigkeit und mehr politische Sicherheit fordern. Das Projekt hat zu einer höheren Bedrohungs- und Risikowahrnehmung in einigen Ländern des Ostseeraums beigetragen; es hat aber auch dazu geführt, dass Länder wie Polen ihre übereinstimmenden politischen Interessen eher mit einem externen Akteur (d.h. den USA) abstimmen als mit Deutschland, einem der größten regionalen Akteure im Ostseeraum.

Während die USA bei diesem Projekt scheinbar keine Kompromisse eingehen und Polen einen weiteren Rechtsstreit gegen die deutsche Regierung angestrengt hat, stellt sich die Frage: Wird Nord Stream 2 zu einer Art Chimäre? Um diese Frage zu erörtern, müssen wir den Ausgang der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen abwarten. Da die Vorstellungen von Demokraten und Republikanern zu Nord Stream 2 sich gleichen, bleibt die Zukunft des Projekts in diesen Fragen ungewiss. Vorerst vertieft sich der sicherheitspolitische Streit zwischen den USA und Deutschland, sei es über das Nord Stream 2 oder auch über NATO-Angelegenheiten.

 

Text von Farid Karimi

Übersetzt von Alexander Drost


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