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Belarus und seine historischen Nachbarschaften: Ein Hintergrundbericht vom IFZO Experten Mathias Niendorf

"Lithuania - Help" Photo by B. Gerdžiūnas/LRT

Heute ist aus aktuellem Anlass häufig von „Belarus“ die Rede, manchmal auch mit dem Zusatz „früher als Weißrussland bekannt.“ Aber ist dieses Land zwischen Russland und Polen, zwischen Lettland, Litauen und der Ukraine überhaupt jemals einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden?

Angespielt wird manchmal auf seine Lage zwischen Ost und West, dabei ist die Republik über ihr Flusssystem auch mit Ostsee und Schwarzem Meer verbunden. Schon im Mittelalter unterhielt die Hanse ein eigenes Kontor in Polozk an der Düna, aber auch enge Verbindungen zu Mahiljow am Dnjepr. Dieser Handelsort erhielt noch 1577 Magdeburger Stadtrecht. Seine Bürger genossen damit mehr Rechte als Städter jenseits der Grenze im Moskauer Reich.

Als über weite Teile Pommerns und Skandinaviens noch Heiden herrschten, bestanden in Belarus schon christliche Fürstentümer, und manche verorten in Polozk den Beginn weißrussischer Staatsbildung. Aus dem dritten Viertel des 11. Jahrhunderts stammt seine imposante Kathedrale. Bewusst war sie nach der heiligen Sophia benannt. Damit wurde nicht nur ein Machtanspruch gegenüber Kiew und dessen gleichnamiger Kirche erhoben, sondern auch an das große gemeinsame Vorbild, die Hagia Sophia in Konstantinopel angeknüpft.

Die Mongolen, die sich Mitte des 13. Jahrhunderts den größten Teils „Altrusslands“, oder wie man besser sagen sollte: des Kiewer Reichs, untertan gemacht hatten, gelangten nicht in dessen Nordwesten. Ob zu jener Zeit die Bezeichnung „Weiß“-Russland (bzw. „Bela“-Rus) aufkam, als Gegenbegriff zum „schwarzen“, unfreien Teil des einstigen Reichs, wird sich wohl kaum noch klären lassen. Andere Erklärungen führen den Farbnamen auf die Bezeichnung von Himmelsrichtungen im Mongolischen zurück oder auf helle Kleidung und helles Haar der Menschen.

Wie groß auch immer die Eigenständigkeit von Polozk und anderen Fürstentümern gewesen sein mochte, wie groß der politische Einfluss Kiews – letztlich gelangten sie, wenn nicht zu Moskau, so unter die Hoheit Wilnas. Das von dort beherrschte Großreich, das sich von der Grenze Ostpreußens bis vor die Tore Moskaus, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, schloss sich seinerseits immer enger an Polen an. Ein Erbe der weißrussischen Fürstentümer blieb dort aber bis Ende des 17. Jahrhunderts erhalten: Bis im Nordwesten des heutigen Litauens, also bis zur Ostseeküste, gebrauchte man eine slawische Amtssprache, die mit kyrillischen Buchstaben geschrieben wurde.

Mit den Teilungen Polen-Litauens gelangte Ende des 18. Jahrhunderts das gesamte Gebiet der heutigen Republik Belarus unter die Hoheit Petersburgs. Das Völkergemisch dort nahm Zarin Katharina II. amüsiert zur Kenntnis, fühlte sie sich doch an die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel erinnert. Gegensätze zwischen Gutsbesitzern und Bauern, zwischen Russen, Polen und Juden auszunutzen, gelang Napoleon nicht. Er erlitt seine große Niederlage 1812 an der Beresina, einem Nebenfluss des Dnjeprs.

Gut 100 Jahre später, nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs, sah es für kurze Zeit so aus, als könnte sich eine bürgerlich-demokratische „Weißrussische Volksrepublik“ etablieren. Ihr Territorium, das mehr auf dem Papier als in der Politik bestanden hatte, wurde dann aber im Frieden von Riga 1921 zwischen Polen und der Sowjetunion aufgeteilt. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 machte diese Regelung rückgängig. Dass die bis dahin ostpolnischen Gebiete zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee besetzt wurden, rechtfertigte Stalin mit dem Schutz der dort lebenden Brudervölker der Weißrussen und Ukrainer. Entsprechend war von einer „Wiedervereinigung“ Weißrusslands die Rede. Das Terrorregime Moskaus wurde dann bald schon von der deutschen Besatzungsherrschaft in den Schatten gestellt. Kein anderer Teil Europas hatte ähnlich hohe Opferzahlen zu verzeichnen wie die heutige Republik. Die Welt des jüdischen Schtetls, die der aus dem weißrussischen Witebsk stammende Marc Chagall immer wieder beschwor, fand sein gewaltsames Ende durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941.

Lange Zeit sah es so aus, als sei der Zweite Weltkrieg die größte Katastrophe in der Geschichte des Landes gewesen, bis 1986 nach dem Reaktorunfall im ukrainischen  Tschernobyl große Teile der Sowjetrepublik radioaktiv verseucht wurden. Beides hat die in der Ukraine geborene, in Weißrussland aufgewachsene Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch literarisch dargestellt. Das Gedenken an jene Ereignisse, teils staatlicherseits gefördert, teils unterdrückt, bestimmt bis heute zu einem Gutteil die Identität des Landes, weit mehr als seine Sprache.

Lange wurde diskutiert, ob es sich dabei um ein verderbtes Polnisch oder ein verderbtes Russisch handele. Auch wenn die Kenntnis einer der beiden Sprachen durchaus hilfreich ist, fällt das Urteil der Wissenschaft doch eindeutig aus: Das Weißrussische ist eine eigenständige Sprache. Gesprochen wird es meist auf dem Land oder von Intellektuellen, die damit bewusst ein Zeichen der Eigenständigkeit setzen wollen. Umgekehrt bedeutet es aber kein Bekenntnis zum großen Nachbarn im Osten, wenn Menschen Russisch reden und schreiben – ähnlich wie schon flammende Plädoyers für ein unabhängiges Irland auf Englisch und nicht auf Gälisch verfasst wurden.

Im übertragenen Sinne jedoch fiel es Minsker Intellektuellen schwerer als anderswo im sowjetischen Machtbereich, schwerer auch als in der Ukraine, eine gemeinsame Sprache mit dem Rest der Bevölkerung zu finden. Nicht zuletzt darauf beruhte auch der Rückhalt eines sich ländlich-volkstümlich gebenden Lukaschenkos. In patriarchalischer Manier verstand sich der ehemalige Kolchosdirektor als jemand zu inszenieren, der anders als ein Gorbatschow oder Jelzin persönlich dafür Sorge trug, dass jeder ehrlich und anständig Arbeitende seinen Lohn, dass Rentnerinnen und Rentner ihre Pensionen pünktlich ausgezahlt bekamen.

Ob mittelalterliches Reich von Kiew („Altrussland“, bis Mitte des 13. Jh.), Großfürstentum Litauen (bis 1795), Zarenreich (1795-1917), Republik Polen (1918-1939) und schließlich die Sowjetunion (1917-1991) – immer war das Gebiet der heutigen Republik Teil größerer Reiche und Staaten. Die wechselvolle Geschichte jener Grenzregion scheint nun eine neue Wendung zu nehmen. Ob man den Anspruch auf Eigenständigkeit im Deutschen mit dem Namen „Belarus“ zum Ausdruck bringen möchte oder lieber bei dem traditionellen „Weißrussland“ bleibt – unübersehbar finden seine Bewohner quer über bisherige Grenzen hinweg zu einem gemeinsamen Handeln zusammen, womöglich zu einer gesellschaftlichen Einheit, die ihnen von außen immer abgesprochen worden ist – zu einer Nation.

Text: Mathias Niendorf


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